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Flexibilität vs. Muskelkraft – Das Konzept der strukturellen Balance:

Fragt man verschiedene Personen in der Fitnessszene nach der wichtigsten Stellschraube für mehr Leistung, ist die Antwort darauf oft glasklar – Mehr Kraft, mehr Power, mehr Ausdauer, mehr Essen… Für maximale und langfristige Leistungsfähigkeit ist das aber die Sicht durch einen Strohhalm. Neben hormonellen Vorgängen, einem optimalen Schlaf und Stressmanagement, ist die Mobilität bzw. Flexibilität eines Gelenks und dementsprechend die Dehnfähigkeit der Muskulatur einer der wichtigsten Bausteine für maximale und nachhaltige Erfolge im Training.

Einer der berüchtigtsten und einflussreichsten Krafttrainer der letzten Jahrzehnte ist der kanadische NFL-, NHL-, NBA- Strength Coach Charles Poliquin der mit seiner forschenden Arbeitsweise für herausragende Erfolge seiner Athleten und Klienten bekannt war. Sie waren schneller, ausdauernder, leaner und muskulöser als die meisten Klienten anderer Coaches. (1) Was war sein Geheimnis?

Das Konzept der strukturellen Balance: Dieses setzt voraus, dass Weichgewebe (wie unsere Muskeln), welches verspannt ist, gestretcht und Weichgewebe, das zu schwach ist, gestärkt werden muss. Flexibilitätstraining ist hierbei ein fester Bestandteil der Erfolgsplanung. (2)

Take-away: Körperliche Leistung ist mehr als nur das Resultat aus mehr Kraft & ein Muskel der verspannt ist muss gestretcht werden.

 

 

Flexibilität als Basis für Kraft & Leistung – Der Joint-by-Joint Approach:

Die Basis für stabile Gelenke und eine Muskulatur, die ihre volle Kraft entwickeln kann, ist die Flexibilität. (3) Stell Dir vor, der 828 m hohe Burj Khalifa in Dubai wäre mit seiner zwar robusten und stabilen Bauart völlig unflexibel aufgebaut. Die Spitze kann durch den Wind bis zu 1,5 m hin- und her schwanken – Wäre das Fundament nicht flexibel konstruiert, müsste der Wolkenkratzer selbst diese Schwankungen ausgleichen, wodurch er an Stabilität verlieren und eventuell sogar „brechen“ würde. (4) Ergibt Sinn oder? Anatomisch sieht es ebenso mit deinem Körper aus – angefangen bei deinem Fundament, den Knöcheln. Sind diese durch verspannte Wadenmuskeln nicht dehnfähig und mobil, muss das Knie die fehlende Mobilität ausgleichen und verliert an Stabilität – und so geht das bis zur Halswirbelsäule nach oben durch. 


Take-away: Flexibilität ist die Basis für Stabilität.

 

 

Ein verspannter Muskel ist ein schwacher Muskel – Dumme Muskeln und Botenstoffe im Gehirn:

Du möchtest in Deiner Lieblingsübung stärker werden wie zum Beispiel beim Bankdrücken aber kommst nicht voran? Viele Personen haben heutzutage ein Upper Cross Syndrom – der Kopf ist dabei nach vorne und nach unten geneigt, die Schultern eingerundet. Das kommt daher, dass u. a. die Brustmuskeln und der obere Nacken verspannt sind. Woher kommt das? Weil wir so gut wie alles mit unseren Händen und Armen vor dem Körper tun wie etwa Zähne putzen, Wasserkisten tragen, ein Auto lenken etc. (5)

Da wir das alle in unserem Alltag tun und das Bankdrücken eine der populärsten Übungen ist, ist das ein perfektes Beispiel. Warum hindert dich eine verspannte Brust daran, noch stärker beim Bankdrücken zu werden? Ein Muskel ist gewissermaßen dumm und kann ohne seine Steuereinheit das Gehirn nicht arbeiten. Damit er arbeiten und sich die Muskelfasern für eine Kontraktion bzw. eine Bewegung zusammenziehen können, bedarf es eines chemischen Botenstoffes im Gehirn – Acetylcholin.

Soll etwa der Brustmuskel kontrahieren, um die Langhantel zu bewegen, sendet das Gehirn über das Rückenmark einen Befehl an das Nervensystem. Die Nervenfasern enden direkt an den Muskelzellen und setzen hier Acetylcholin frei, welches letztlich eine elektrische Erregung der Muskelfasern erzeugt. Ohne Acetylcholin gibt es also zero Muskelkontraktion und somit bleibt die Hantel liegen. Je mehr Acetylcholin freigesetzt werden kann, desto weniger Drop-Off (sinkendes Gewicht von Trainingssatz zu Trainingssatz) und desto weniger Ermüdung hast Du.

Jetzt kommt die Brücke zwischen Acetylcholin und Deiner Flexibilität: Deine Nervenbahnen sind mit ihrer elektrischen Leitung nichts anderes als ein Gartenschlauch durch den Wasser fließt. Was passiert, wenn du einen Gartenschlauch knickst bzw. einengst? Es tröpfelt nur noch vorne heraus. Ein verspannter Muskel führt zu mehr Druck auf die Nervenbahnen. Der Druck auf den Nervenbahnen führt zu einer schlechteren elektrischen Leitung, diese führt zu weniger freigesetztem Acetylcholin. (6)(7) Letztlich führen verspannte Muskeln also zu weniger Kraft und Leistung.

Take-away: Ein verspannter Muskel ist ein schwacher Muskel.

 

 

Mehr Flexibilität und eine bessere Haltung = mehr Energie & Power:

Entscheidend für unsere Leistungsfähigkeit ist das Verhältnis zwischen dem Energie-Hormon Testosteron (T) und dem Stress-Hormon Cortisol (C). T ist zudem maßgeblich entscheidend für den Neuaufbau von Strukturprotein (Protein, aus dem Muskelgewebe gebaut wird). T wirkt anabol (Gewebe-aufbauend), C katabol (Gewebe-abbauend). Darüber hinaus ist T neben dem Schlafhormonen Melatonin und Somatropin entscheidend für eine optimale Regeneration vom Training. (8)(9)

Laut einer Studie von Dr. Amy Cuddy, zu sehen auf Ted.com, führt eine schlechte Haltung zu mehr Cortisol und weniger Testosteron. (10)

Wie oben bereits erwähnt, hat ein Großteil der Menschheit ein Upper Cross Syndrom, verursacht durch verspannte Brust- und Nackenmuskeln. Eine gebeugte Haltung durch verspannte Muskeln hat also einen direkten Übertrag auf unsere Leistungsfähigkeit durch ein schlechtes Verhältnis von Testosteron zu Cortisol.


Take-away: Verspannte Muskeln beeinflussen hormonelle Verhältnisse und führen zu Leistungseinbußen.

 

 

The Evil Twins: Weniger Flexibilität & weniger Bewegungsradius = weniger Trainingseffekt:

Bleiben wir beim Beispiel des Bankdrückens und der verspannten Brust, wodurch es nur unzureichend möglich ist, einen weiten Bewegungsradius bei der Übung auszuführen. Wenn es durch fehlende Mobilität in den Gelenken nicht möglich ist, die negative Phase einer Übung über einen weiten Weg auszuführen (das Gewicht wird abgelassen), verzichtet man auf den hauptsächlichen Trainingsreiz.

Wird ein Muskel unter Anspannung in seiner Länge gedehnt, führt das zu einer weitaus höheren Rekrutierung von Muskelfasern, wodurch ein höherer Trainingsreiz entsteht. Je größer der Bewegungsradius (Range of Motion, kurz: ROM), desto mehr Fasern werden also rekrutiert, wodurch es zu einer höheren Proteinbiosynthese kommt – diese ist simpel der Neuaufbau von Muskelgewebe nach einem Reiz.

Ein kleineres Gewicht über eine volle ROM führt laut Studien zu einem größeren Trainingsreiz als ein höheres Gewicht bei einer niedrigeren ROM. (11) Daher ist es wichtig, verspannte Muskeln zu stretchen, um eine volle ROM zu erreichen.


Take-away: Verspannte Muskeln führen zu weniger Trainingseffekt.

 

 

Mehr Flexibilität = weniger Verletzungen & konstanterer Erfolg:

Der Muskeltonus ist die Spannung im Muskel, die während der Ruhe hat. Durch Krafttraining kann der Muskeltonus über die Zeit zunehmen. Macht sich eine zu hohe Ruhespannung irgendwann durch, zwicken oder stechen bemerkbar, sollte man beginnen, diesen verspannten Muskel zu stretchen. Das bekannteste Beispiel für eine zu hohe Spannung mit anschließender Verletzung ist wohl das Impingement-Syndrom in der Schulter. Hierbei wird die Sehne eines Außenrotators des Arms zwischen dem Oberarmknochen und dem Schulterdach eingeklemmt – was zu einem Stechen vor allem bei Überkopf-Arbeiten in der Schulter führt. Ursache sind hierfür u. a. verspannte Brust- und Nackenmuskeln, welche den Oberarm nach vorne und nach oben ziehen. (12)

Wer schon mal ein Schulter-Impingement oder andere Beschwerden aufgrund von verspannten Muskeln hatte, weiß, dass dies das Training und die Fortschritte massiv negativ beeinflusst. 


Take-away: Verspannte Muskeln können Dich meilenweit von deinen Trainingszielen zurückwerfen weil sie Verletzungen provozieren.

 

 

Teste selbst wie flexibel Du bist – Das Overhead-Squat Assessment:

Der Overhead-Squat ist das schnellste und einfachste Tool, um die Flexibilität all deiner Gelenke durchzutesten. Der Test wird mit einem Besenstil ohne erhöhte Fersen durchgeführt. (13)

  • Der Besenstil befindet sich vor Deinem Kopf = Zu hoher Tonus des M. latissimus und des M. pectoralis major

  • Du lehnst Dich nach vorne / Kein aufrechtes Sitzen ist möglich = Zu hoher Tonus der Hüftflexoren (M. Iliopsoas,, M. rec. femoris)

  • Deine Knie haben einen Zug nach innen und kommen sich entgegen = M. vastus medialis ist zu schwach

  • Deine Knie befinden sich hinter Deinen Zehenspitzen = Fehlende Mobilität Deiner Knöchel

  • Außenrotation Deiner Füße = Zu hoher Tonus des M. pirifomis

  • Füße klappen mit der Innenkante nach Innen = Mm. Ischiocrurales ist zu schwach

  • In der konzentrischen Bewegung (Du richtest Dich auf) machst Du einen Schritt zur Seite = Einseitige Dysbalance (Der Körper neigt sich zur stärkeren Seite)

 

 

„On the go – Stretch“: Die beste Methode um zu stretchen: Exzentrisch betontes Krafttraining:

Studien belegen, dass Übungen mit einer vollen und langsamen ROM in der negativen Bewegung den größten Effekt auf die Flexibilität von Muskeln haben – Quasi stretcht man hierbei „on the go“ seine Muskeln, während man sie trainiert. Leider ist eine volle, kontrollierte ROM immer noch unter den TOP Bewegungsdefiziten im Alltag der Fitnessstudios (14).

Um die Stimmung richtig einzuheizen, schauen wir uns am besten den ewigen Zankapfel der Fitnessszene an: die Kniebeugen-Tiefe.

(!) Um im Vorhinein zu vermeiden, geächtet zu werden, nur in Kürze: Ja, tiefe Kniebeugen, in denen die Oberschenkel die Unterschenkel küssen und das Knie über die Zehen geschoben wird (Olympische Kniebeuge) belasten die Gelenke (das Knie), denn wo gehobelt wird, fallen Späne. Laut Studien führt diese Variante im Vergleich zu einem Power Squat (Hüfte wird nach hinten geschoben, Knie bleiben hinter den Zehen) nur zu einem minimalen Anstieg der Kniebelastung. Dafür wird allerdings bei einem Power Squat die Hüfte um über 1000 % mehr belastet (14).

Zurück zur Mobilität: Volle Kniebeugen (wie auch bei allen anderen Übungen) dehnen das Weichgewebe (Muskeln, Sehnen, Faszien) in vollem Umfang, indem sie einen hohen Bewegungsradius nutzen. Damit wird die Gesundheit der Knorpel verbessert, da sich diese über Druck und Zug mit Nährstoffen wie ein Schwamm „vollsaugen“.

Durch eine volle Bewegungsausführung werden vor allem alle Muskeln ausbalanciert trainiert. Am Beispiel von Kniebeugen wäre das der Musculus vastus medialis, der vor allem bei tiefen Kniebeugen unter 90° aktiviert wird. Wird dieser durch halbe Kniebeugen vernachlässigt, kann dies zu einem starken muskulären Ungleichgewicht und folglich zu gesundheitlichen Problemen und zu Leistungsschwächen führen. (15)

Ein Flexibilitätstraining über volle und kontrollierte ROMs bei allen Übungen ist ohne Mehraufwand durchzuführen, steigert die Leistungsfähigkeit und die Gesundheit aller Gelenke.


Take-away: Halbe Wiederholungen provozieren fehlende Flexibilität und schwächere Trainingsreize!

 

 

How-to: Zusätzliches Stretching: Foam Rolling vs. Stretching:

Möchtest Du Dich zusätzlich stretchen, weil ein Muskel bzw. ein Gelenk besonders verspannt ist, macht es keinen großen Unterschied, ob Du hierfür einen Foam Roller nimmst oder Dehnübungen machst. Der primäre Unterschied ist hierbei, dass Stretching nicht vor einem Krafttraining ausgeführt werden sollte, da dadurch der Muskeltonus (Die Grundspannung) zerstört wird. Das wirkt sich sinnvollerweise negativ auf das Krafttraining aus. Beim Foam

Rolling kann die Beweglichkeit verbessert werden, ohne dabei die Leistungsfähigkeit temporär durch Spannungsverlust herabzusetzen.

Beim Foam Rolling spielt übrigens die Geschwindigkeit, mit der Du über die Rolle rollst keine Rolle. Bewege Dich einfach auf und ab bei maximal tolerierbarem Druck. (16)

Möchtest Du Dich stretchen, gibt es viele Möglichkeiten: von statisch und dynamisch, über passiv und aktiv. Alles bietet Vor- und Nachteile. Als Standard-Methode bietet sich beispielsweise das aktiv statische Dehnen über 30-60 Sekunden an. Das bedeutet, Du sorgst selbst für das statische Dehnen eines Muskels ohne fremde Hilfe.

 


 

Quellen:

  • (1) https://en.wikipedia.org/wiki/Charles_Poliquin

  • (2) https://athleticsi.com/structural-balance-assessments-identifying-preventing-injuries/

  • (3) http://www.greglehman.ca/blog/2012/05/29/exceptions-to-the-exceptional-joint-by-joint- approach

  • (4) https://de.wikipedia.org/wiki/Burj_Khalifa

  • (5) https://www.physio-pedia.com/Upper-Crossed_Syndrome

  • (6) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK557825/

  • (7) Dr. Eric Braverman. The Edge Effect. 2004

  • (8) https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/2917954/

  • (9) https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/22499765/

  • (10) https://www.ted.com/talks/amy_cuddy_your_body_language_may_shape_who_you_are/ transcript#t-658654

  • (11) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6977096/

  • (12) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK554518/

  • (13) https://www.physio-pedia.com/Overhead_Squat_Test

  • (14) https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/22522590/

  • (15) Fry, A. C., Smith, J. C., & Schilling, B. K. (2003). Effect of Knee Position on Hip and Knee Torques During the Barbell Squat. Journal of Strength and Conditioning Research, 17(4), 629-633.

  • (16) https://journals.lww.com/nsca-jscr/fulltext/2017/04000/ Acute_Effects_of_Deep_Tissue_Foam_Rolling_and.3.aspx